Wie ist es um den Wirtschaftsstandort Deutschland bestellt? Ist die Bundesrepublik nun Superstar oder Absturzkandidat? Und was können die Unternehmen von sich aus tun, um Deutschland flott zu halten? Mit diesem Fragenkreis beschäftigte sich der 32. Kongress des Club of Logistics, der am 6. und 7. Mai 2019 in Königswinter/Bonn stattfand. In mehreren Talkrunden beleuchteten Experten aus Wissenschaft, Publizistik und Industrie die unterschiedlichen Aspekte des Themas.
Ausgangspunkt und Grundlage der Diskussion bildete der gegenwärtige Zustand der deutschen Wirtschaft, einerseits im Vergleich zu den vergangenen Jahren, andererseits im Vergleich zu den internationalen Wettbewerbern. In letzter Zeit hatten sich dazu diametral entgegengesetzte Einschätzungen herauskristallisiert. Einem in der Presse sprudelnden Optimismus („Boomnation Deutschland“, „Deutschlands Wirtschaft strotzt vor Kraft“, „Der deutsche Wirtschaftsmotor brummt“ etc.) setzte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit der Bemerkung die Krone auf: „Die deutsche Wirtschaft kann in den nächsten Jahren weiter um zwei bis 2,5 Prozent pro Jahr wachsen. Ich halte es für möglich dass wir diesen Wachstumspfad noch für mindestens 15 bis 20 Jahre fortsetzen können.“
Als die Wirtschaftsdaten vor etwa einem Jahr schlechter zu werden begannen, mehrten sich die Abgesangsfanfaren. Von der Gefahr, der „neue kranke Mann Europas“ zu werden, ist nun die Rede.
Der Ist-Zustand des Standorts D
Den Aufstieg zur erfolgreichsten Volkswirtschaft Europas seit 2005 verdankt Deutschland nach Ansicht der Experten zu einem großen Teil den Reformen der Schröderregierung, die zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und einer Einschränkung des Sozialstaats geführt haben – also einer bewussten politischen Umsteuerung. Hinzu kommt laut einer Studie, die Prof. Dalia Marin von der School of Management der Technischen Universität München erläuterte, ein historisches Umwälzungsereignis: die Osterweiterung der EU und die damit verbundene Handelsliberalisierung. Sie führte zu einer Verlagerung der Lohnverhandlungen auf die individuelle Unternehmensebene mit der Folge von Lohnzurückhaltung und einer verlangsamten Steigerung der Lohnstückkosten im Vergleich zu den europäischen Handelspartnern. In den Unternehmen zog dies eine Dezentralisierung der Hierarchien nach sich, was zu einer Flexibilisierung der Entscheidungen beitrug und marktnäheren Managementebenen mehr Einfluss gab. Zudem wurde Produktion teilweise in den Osten verlagert, wo hoch qualifizierte Arbeitskräfte mit geringeren Gehaltsansprüchen verfügbar waren.
Die Kombination vieler Faktoren hat somit zu dem hervorragenden Erfolg der deutschen Wirtschaft (vor allem dank des hohen Exportanteils) geführt. Gleichzeitig begünstigte dies jedoch Selbstzufriedenheit und Blindheit für bedenkliche Erosionserscheinungen in den letzten Jahren. Mittlerweile werden diese immer deutlicher spürbar. Auf eine Reihe von „goldenen Jahren“, in denen das Wirtschaftswachstum weit über dem langjährigen Potenzial lag (mit einem Schnitt von fast 2,1 Prozent von 2014 bis 2017) bremste es sich 2018 abrupt auf 1,4 Prozent ab und wird sich nach Ansicht der meisten Experten 2019 nochmals halbieren. Während viele Beobachter bei der 2 vor dem Komma in Euphorie gerieten, warnten andere, der Boom sei nur scheinbar ein Zeichen deutscher Stärke. Er sei in erster Linie auf Sonderfaktoren (Niedrigzinspolitik, günstiger Eurokurs, Boom in Schwellenländern, hohe Importvolumina bei geringen Exporten der deutschen Haupthandelspartner, vorübergehendes „Konjunkturprogramm“ durch die Ausgaben für Flüchtlinge etc.) zurückzuführen, weniger auf die Kraft der
deutschen Wirtschaft. Der rein auf exportfreundlichen Rahmenfaktoren beruhende Wachstumsschub trug seine eigene Schwäche mit sich: Was wenn die Zinsen steigen? Wenn der Boom in den Schwellenländern nachlässt? Wenn die Handelsungleichgewichte zu Gegenreaktionen führen? Wie wird es mit einem Wirtschaftsstandort weitergehen, dessen Stärke im Export liegt und daher von Ereignissen außerhalb des eigenen Einflusses bestimmt wird?
Fast all diese Veränderungen sind inzwischen eingetreten – bis auf die Nullzinspolitik der Notenbanken, an der sich wohl auch in naher Zukunft nichts ändern wird, dafür sorgt der Selbsterhaltungstrieb des Euroraums. Prompt sinkt auch das Wirtschaftswachstum auf einen Wert, der Mühe hat, die anämischen Durchschnitte der letzten Jahrzehnte zu erreichen. Den Wert des strukturell möglichen Wachstums für das nächste Jahrzehnt sehen internationale Experten auf 1,1 Prozent pro Jahr geschrumpft. Im Gleichschritt mit dieser Entwicklung verschwinden die riesigen Haushaltsüberschüsse der letzten Turbojahre.
Gleichzeitig werden andere ungünstige Entwicklungen sichtbar: Die Produktivität steigt kaum noch, die Belastung durch Bürokratie sowie Steuern und Abgaben für Bürger und Unternehmen ist im internationalen Vergleich sehr hoch, die Infrastruktur bröckelt oder wird viel zu langsam auf- und ausgebaut, die Innovationsfähigkeit geht zurück, selbst beim hoch gelobten Mittelstand. Und die niedrige Investitionstätigkeit bei Staat und Wirtschaft ist seit vielen Jahren ein Stein des Anstoßes, ohne dass eine Wende in Sicht ist.
Besonders bedenklich für die Exportnation Deutschland ist die rapide Erosion der Wettbewerbsfähigkeit, die in zahlreichen Analysen zum Ausdruck kommt. So platziert etwa das Schweizer „International Institute for Management Development“ (IMD) in seiner jüngsten Studie zur Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften Deutschland im Vergleich von 63 Ländern auf Rang 17 – ein Absturz um 11 Plätze innerhalb von nur fünf Jahren und der niedrigste Stand seit 2006. Entsprechend rückläufig ist auch die Attraktivität Deutschlands für ausländische Investoren, wie die Standort-Attraktivitätsstudie des Beratungsunternehmens EY zeigt, die eine steigende Unzufriedenheit und einen Rückgang der Investitionen in Deutschland ausweist.
Das Kreuz mit der Veränderung
Wie groß ist die Veränderungsbereitschaft der Deutschen in einer Zeit, in der der Wandel die Normalität ist und Kreativität den Wohlstand sichern muss? Umfragen belegen: Die Deutschen schätzen ihre persönliche wirtschaftliche Lage sehr positiv ein – kein Wunder nach einer Reihe von Boomjahren. So beurteilten bei einer Befragung im Auftrag des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) im Jahr 2018 fast zwei Drittel der Bundesbürger (63%) ihre finanzielle Situation als zufriedenstellend – der höchste Stand seit 2005 und ein Wert, der im Kreis der Industriestaaten nur noch von den Amerikanern übertroffen wird.
Doch abgesehen von den persönlichen Finanzen herrsche, so das Urteil der Talkgäste in Königswinter, eine wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Situation. Die Politik habe ein „Angebotsproblem“, formulierte es Jörg Schönenborn, Fernsehdirektor des WDR Köln. Die Regierungsparteien werden zunehmend kritisch gesehen. Mit dem Versuch, es allen recht zu machen, trügen sie zur Verunsicherung angesichts der großen bevorstehenden Aufgaben bei. Die Deutschen sehen die Gegenwart als Umbruchzeit, in der sich die bislang fest gefügte Nachkriegsordnung aufzulösen beginnt. Auch das Unbehagen an der sozialen Marktwirtschaft wächst, ausgehend von der Finanzkrise, in der wesentliche marktwirtschaftliche Mechanismen wie Risiko, Haftung und Verantwortung durch die Rettung der Banken und den Schutz der Gläubiger außer Kraft gesetzt wurden.
Im Verhalten der deutschen Bevölkerung lässt sich eine folgenreiche Widersprüchlichkeit erkennen: Einerseits herrschen das Gefühl und die Überzeugung, dass Veränderungen nötig sind, um den Wohlstand zu erhalten, dessen Basis immer mehr Menschen bedroht sehen. Der Übergang von der Industrie- zur Digitalökonomie wird als entscheidend für den Fortbestand des guten Lebensgefühls wahrgenommen. Diese Erkenntnis trifft jedoch auf den Hang zur Bewahrung des Bestehenden, der seit vielen Jahren den fälligen Paradigmenwechsel verhindert. Dadurch bildet sich ein trotz Sehnsucht nach Veränderung übermächtiger Widerstand gegen Reformen heraus, der Deutschland zum „Resilienzweltmeister“ (Prof. Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Governance in Duisburg) gemacht hat. Die Deutschen beflügelt offenbar die Aussicht auf Veränderung, aber nicht die Veränderung selbst. Die Angst vor dem
Risiko verhindert Freude und Leidenschaft am Wandel, wie sie in angelsächsischen Ländern anzutreffen sind.
Kultureller Hintergrund ist die Risikoaversion, ein Misstrauen gegen schnellen Fortschritt, das sich auch an einer der bisherigen Stärken des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs festmachen lässt, die sich heute zunehmend als Fortschrittsbremse herausstellt: der ganz auf inkrementellen Fortschritt und Optimierung des Bestehenden fixierten Ausrichtung der Ingenieurwissenschaft. Dagegen bevorzugt etwa die US-Gesellschaft das schnelle Entwickeln und Testen von neuen Technologien und Geschäftsmodellen, unter Einsatz von viel Risikokapital (allein dieser deutsche Begriff macht den Unterschied deutlich: Er stellt das hierzulande Angst-befrachtete Thema Risiko in den Vordergrund, während der englische Begriff Venture Capital eine positiv gesehene Bedeutung hat: etwas
wagen, sich trauen und sich etwas zutrauen, eine Chance nutzen.).
Was dabei als besonders besorgniserregend empfunden wird, ist die Unvermeidlichkeit des Wandels, verknüpft mit der Tatsache, dass Gesellschaften mit dem Willen zu Wachstum, Fortschritt und Dynamik wirtschaftliche Umwälzungen grundsätzlich besser bewältigen als eine Stillstandsgesellschaft wie sie in Deutschland zu beobachten ist. Hier lauert eine Gefahr für die westlichen Systeme von Demokratie und Marktwirtschaft: Die mit langsamen Prozessen arbeitende parlamentarische Demokratie wird zunehmend Schwierigkeiten haben, mit dem rasanten technologischen und ökonomischen Wandel Schritt zu halten, was sich in einem ständigen „Hinterher-Regulieren“ manifestiert. Daraus entstehen Wettbewerbsnachteile gegenüber Systemen wie der chinesischen gelenkten Wirtschaft, die sich in Wohlstandsverlusten zeigen werden. „Die ökonomischen Kosten von Demokratie steigen.“, bringt es Prof. Karl-Rudolf Korte auf den Punkt.
Je schneller sich der Wandel vollzieht, desto rascher müssen die Regeln der Gesellschaft angepasst werden. An dieser Anpassung wollen die Menschen aber beteiligt sein. Ein Weg in einen erfolgreichen Veränderungsprozess ist daher – so die Ansicht der Podiumsteilnehmer – nur zu finden, wenn den Bürgern Teilhabe an (oder zumindest ausreichende Transparenz in) den politischen Entscheidungsprozessen gewährt wird. Studien machen zudem klar, dass eine solche Mitentscheidungsmöglichkeit die Lebenszufriedenheit der Menschen merklich erhöht.
Was unerlässlich erscheint, ist ein tiefgreifender Umbruch in der Art und Weise wie Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle entwickelt werden, verbunden mit einem kulturellen Umdenken. Deutschland fällt nicht nur bei Technologie und Infrastruktur zurück, sondern auch hinsichtlich der Agilität der Unternehmen und bei den Führungsprinzipien. Technologiepessimismus und Bedrohungsängste lassen sich nur abbauen, wenn bereits in den Schulen Grundlagen des Unternehmertums und der Marktwirtschaft vermittelt werden. Die Gefahren des Denkens in Richtung Besitzstandswahrung und die Vorteile des „riskanten“, disruptiven Denkens müssen bereits zu einem frühen Zeitpunkt aufgezeigt werden.
Blick in die Zukunft
Wie steht es also mit der Stillstandsrepublik? Ein Kolumnist von Bloomberg beobachtet: „Verbreitet ist in Deutschland immer noch ein Maß an Selbst-zufriedenheit und Schulterklopfen, das den Verdacht erweckt, dass das Land das wahre Ausmaß der Aufgaben, die auf es zukommen, nicht erkannt hat.“ In der Tat mehren sich Stimmen, die warnen: Wenig von dem, was uns stark gemacht hat, wird uns stark erhalten. Ob das exportorientierte Modell Deutschland überhaupt in dieser Form überleben kann, ist keineswegs sicher. Gute Produkte können inzwischen auch andere. Digitalisierung und künstliche Intelligenz ermöglichen völlig neue Businessmodelle, und wer meint, in der Zukunft nicht von revolutionären Entwicklungen überrascht zu werden, die keine Zeit mehr zum Aufholen lassen, wird sich noch wundern. Geschwindigkeit wird zum entscheidenden Faktor des Erfolgs werden, und hier liegt definitiv eine herausragende Schwäche Deutschlands – auch gegenüber anderen europäischen Staaten wie etwa dem Baltikum. Die bremsende Wirkung vieler unterschiedlicher zuständiger Behörden und Ansprechpartner wurde ebenso kritisiert wie oft „undurchdachte“ Richtlinien der EU auch für den Logistiksektor. Neue Player und neue Staaten werden mit frischen Ideen auf den Plan treten. Vor „Wir-schaffen-das“-Gewissheiten, die auf den Erfolgsrezepten der vergangenen Jahre beruhen, warnen Digitalisierungsexperten immer wieder.
Einen, wenn auch eher schwachen, Trost spendet der Zukunftsforscher Gábor Jánszky, Geschäftsführer des Think Tanks 2b AHEAD, wenn er auf die Frage antwortet, wo er den Standort Deutschland im Jahr 2030 sieht: „Ich bin nicht ganz pessimistisch, und zwar aus folgendem Grund: Einige wenige Mächte, darunter die USA und wohl auch China, werden zwar die anderen weit abhängen, aber der Rest hat ähnliche Probleme wie wir. Ob Europäer, Japaner oder Russen – sie alle haben mit der Demographie, der Alterung etc. zu kämpfen und sind auch keine Könige der Geschäftsmodellinnovation. Was wir sehen werden, ist, dass sich hinter der Spitzengruppe eine große Lücke aufbaut, auf den Plätzen fünf bis 15 oder 20 aber alles ganz eng zusammenrückt. Einige werden absteigen, andere holen auf, wie Lateinamerika und Afrika. Der ganz große Absturz droht Deutschland nicht.“
„Don’t Panic!“
Daher gilt es auch, der wachsenden publizistischen Panikmache Grenzen zu setzen. Schließlich gibt es in Deutschland Rahmenbedingungen, die eine solide Basis für einen erfolgreichen Wettbewerb darstellen – wenn sie bewahrt werden können. Dazu zählen Analysten vor allem das stabile politische und Rechtssystem, hoch qualifizierte Fachkräfte und ein hohes Bildungsniveau. Derzeit geraten einige dieser Pluspunkte aber ins Wanken. Insbesondere beim Thema Bildung besteht weitgehende Übereinstimmung, dass hier massiver Reformbedarf ansteht. Und was die Stabilität des politischen Systems angeht, bleibt abzuwarten, wie handlungsfähig es in Zukunft sein wird.
Bemerkenswerterweise hatten Vertreter der Logistikindustrie auf dem Kongress in Königswinter für die Unternehmen selbst vor allem eine Forderung parat: mehr Mut. Unabhängig von schlechten Rahmenbedingungen gebe es Möglichkeiten, einen individuellen Weg zum Erfolg zu finden. Mit innovativen Konzepten, auch bei den Themen Personalgewinnung und Ausbildung, lässt sich die Veränderung antreiben. Dies macht Hoffnung, denn nur eines ist garantiert: Ein bloßes Weiter-so zementiert die Stillstandsrepublik Deutschland.
So die Ausführungen von Peter Voß, Geschäftsführer des „Club of Logistics“ zur 32. Tagung des Club of Logistics am 6. und 7. Mai 2019 in Königswinter